Im Fernsehen neulich den Film Troja gesehen und tags darauf sofort mit der Lektüre der Ilias begonnen. An dem Film gibt es im Grunde gar nichts auszusetzen, ein perfekt gemachter Hollywoodfilm, hochklassig besetzt, spannend, monumental, bilderstark usw., ein Hollywoodblockbuster eben, dem man schwerlich zum Vorwurf machen kann, dass er alle Register zieht, die einen echten Hollywoodblockbuster eben ausmachen. Aber dann schmerzte es mich punktuell eben doch, dass diese antiken Helden alle so total amerikanische Gesichter haben und auch so lässig cowboyhaft daherreden, und dachte, ich müsste doch einmal den homerischen Urtext lesen, denn meine eigene Kenntnis der Geschichte beruht ja auch zu größten Teilen auf Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums, die ich als Jugendlicher mal gelesen habe. Schon komisch eigentlich, dass mir ein amerikanischer Film in Erinnerung rufen muss, dass ich das wesentliche Fundament der abendländischen Literatur eigentlich nur vom Hörensagen kenne. Kittler schreibt ja an einer Stelle, dass seiner Vermutung nach das griechische Vokalalphabet, und damit die erste große medientechnische Revolution, nur erfunden wurde, um die homerischen Gesänge anschreibbar und damit auch speicherbar zu machen.
Aber wie dem auch sei: erste Verblüffung bei der Ilias-Lektüre: wie flüssig sich das heute noch lesen lässt. So flüssig, dass ich teilweise schon den Verdacht hegte, ob die Übersetzung nicht sogar zu entstaubend und aktualisierend zu Werk gegangen sei. Aber der Übersetzer Wolfgang Schadewaldt beteuert im Nachwort, dass er auf möglichst wörtliche Übersetzung bedacht gewesen sei und sogar die Wortstellung nach Möglichkeit beibehalten habe. Was hingegen nicht reproduziert ist, ist der Hexameter, und vielleicht sind meine früheren Versuche, die Ilias zu lesen, genau daran gescheitert, dass ich Übersetzungen hatte, die auf Teufel komm raus die Metrik im Deutschen reproduzieren wollten, und deshalb die Sätze so seltsam umstellen und umformen mussten, dass plötzlich ein fast unlesbarer Quark dabei rauskommt, während in Schadewaldts frei rhythmischer Übersetzung alles völlig klar und verständlich ist, und dabei am nächsten am griechischen Original. Meine Ausgabe hat keinerlei Stellenkommentar, ich hätte aber auch nur ein paar Mal das Bedürfnis gehabt, mir eine dunkle Stelle durch erklärende Kommentierung erhellen zu lassen. Alles andere völlig klar, die Sprache total direkt, völlig am Geschehen orientiert, man sieht alles deutlich vor Augen. Ich kann gar nicht genug betonen, wie verrückt ich das finde, wie toll das ist, bei einem Text, der so alt ist, dass er noch nicht mal vernünftig datiert werden kann.
Überflüssig zu erwähnen, dass das Epos natürlich hundertmal ausführlicher erzählt als der Film, das ist einfach der Natur des Mediums geschuldet, in 120 oder 140 Filmminuten kann man logischerweise nur einen Bruchteil dessen reinstopfen, was im Epos in aller Ausführlichkeit und Redseligkeit länglich ausgebreitet wird. Aber auch über notwendige Verdichtungen des Stoffes hinaus weicht der Film so stark vom Epos ab, dass sich weitere Vergleiche eigentlich erübrigen. Mir ging es zum Beispiel beim Anschauen des Films schon so latent gegen den Strich, dass die Achaier, und dabei vor allem deren Anführer Agamemnon und Menelaos, so als bärtig-zottelige, kriegslüsterne Bluthunde gezeichnet sind, die Troer hingegen als ganz kultivierte und schön glattrasierte Feingeister, und es verwundert mich jetzt kein bisschen, dass sich nicht die leiseste Andeutung einer solchen kulturellen Diskrepanz in der Ilias finden lässt. Dass andererseits Agamemnon ein so gigantisches Heer nicht allein deswegen aufstellt, um seinem Bruder die Frau zurückzubringen, sondern es hinter diesem Vorwand vor allem um Kriegsbeute, Macht und geopolitische Einflussvermehrung geht, das musste uns nicht erst der säkulare (und dankenswerterweise ohne jeden Götterzirkus auskommende) Film erklären, das steht in der Ilias auch schon völlig klar und unmissverständlich drin.
Und das ist natürlich gewissermaßen das Schreckliche an dieser Lektüre, die Erkenntnis, dass am Anfang der abendländischen Literatur ein Epos über einen Krieg steht, wie er aus denselben bescheuerten Motiven auch heute noch geführt werden könnte und allerorten ja auch tatsächlich geführt wird. Außer in puncto Waffentechnik hat sich nicht allzuviel geändert in den letzten 2500 Jahren.
mir ging es so mit der odysee. erst die schadewaldtsche übersetzung ermöglichte den lesegenuß.
Schöner Beitrag. Und danke für den Übersetzungstipp.
Klasse. Danke. Vor allem für diesen Teil: »Und das ist natürlich gewissermaßen das Schreckliche an dieser Lektüre, die Erkenntnis, dass am Anfang der abendländischen Literatur ein Epos über einen Krieg steht…«
Woanders – diesmal mit dem Schulsystem, dem Streaming, der Ilias und anderem | Herzdamengeschichten
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