Search and Destroy

Den R. früher oft gescholten für seine notorische Bloghopperei, aber jetzt stehe ich selber da und muss bekennen: Es geht hier nicht mehr weiter, ich muss den Laden leider dicht machen. „Sichten und Ordnen“, das sollte mal nach einer Mischung aus Thomas Bernhard und Wolfgang Herrndorf klingen, nach Bernhards Höllerscher Dachkammer und Herrndorfs Arbeit und Struktur. Aber vier Jahre sind vergangen, die Welt hat sich verändert, oder wenigstens meine Sicht auf die Welt ist eine andere geworden, mittlerweile schießt der Nazi Word Factor von „Sichten und Ordnen“ für mein Sprachgefühl durch die Decke. Es klingt mir nur noch nach „Reih und Glied“, „Blut und Boden“ oder „Zucht und Ordnung“.

Also Neustart, Reboot, irgendwann, irgendwie, irgendwo anders. Mit mehr Chaos, Wirrwarr und Anarchie, als unter dem lahmen Karteikasten-Label hier je möglich gewesen wäre. So jedenfalls der Vorsatz.

Dank an Alle für alles. Wir lesen uns wieder.

02.04.2016

Der schönste Tag des Jahres ist ja eigentlich der, an dem man zum ersten Mal ohne den schweren Wintermantel rausgeht, plötzlich ist alles so leicht, und heute war also dieser Tag. Nur mit der leichten Jacke in der Stadt unterwegs gewesen, die Sonne und der knallblaue Himmel, das frische Grün, das jetzt überall hervorsprießt: Diese Illusion, es könnte doch noch einmal alles gut werden.

Nachmittags dann im Übermut auf zum Biergarten, der tatsächlich auch geöffnet hatte, zum ersten Mal in diesem Jahr, aber die den Kindern versprochenen Brezen und Knackwürste waren noch nicht da. Ich also auf zum Rewe, biergartenmäßige Brotzeit kaufen, steht vor mir in der Kassenschlange diese Alte, die immer ganz in schwarz rumläuft, ich kenn die schon vom Sehen, wohnt irgendwo zwei Häuser weiter, immer alles komplett schwarz, bis auf das käsige Gesicht, weiß wie eine frisch gekalkte Wand. Und hat also, wie ich in der Kassenschlange hinter ihr stehend nicht umhin konnte zu bemerken, an ihren schwarzen Rucksack eine Rasierklinge geheftet und einen Button von BÄRGIDA. Ich beug mich extra nochmal ganz nah hin, könnte ja sein, dass das ein Scherz ist: Berliner Äffchen randalieren gegen die Infantilisierung des Abendlands, oder irgend so ein Scheiß, aber nein: Meine Nachbarin ist wirklich ein Nazi, und will auch, dass alle das wissen, sonst würde sie es sich ja kaum an ihren Rucksack pinnen, in den sie dann auch ihre vier Tiefkühlpizzen stopfte. Zwei Peperonisalami, zwei Funghi.

Wie normal das plötzlich zu sein scheint, sich als xenophobes Arschloch zu outen. Der Typ mit dem Tattoo „Meine Ehre heißt Treue“, in Frakturschrift in den Unterarm gebrannt, den ich neulich sah, wie er mit Frau und Kind ins KaDeWe reinlief zum munteren Shoppen. Ganz normal, ganz normale Bürger offenkundig. Ich weiß gar nicht, wie meine Ehre heißt. Ist mir aber auch fast egal. Ich glaub, die braucht gar keinen extra Namen.

Abends Krautfleckerl mit Herzchennudeln gekocht. Herzfleckerl taufte ich das Gericht.

Roll Over

Mein Computer hat offenbar Intelligenz entwickelt, und ich kann mitteilen: Er ist kein böses Skynet, sondern er mag mich, ist um mich besorgt, will mich vor Dingen schützen, von denen er weiß, dass sie mich in Verstörung und Wut versetzen würden. Das schließe ich jedenfalls daraus, dass er den Firefox immer wieder hat abstürzen lassen, während ich András Schiffs Vortrag zur Sonate op. 111 auf YouTube hören wollte. Ich verstand aber diese Warnrufe meines Rechners nicht und startete den Browser immer wieder neu, blieb eisern, obwohl die Absturzfrequenz sich gegen Ende aufs Nervigste erhöhte und dann musste ich es eben doch hören, ich habs ja nicht anders gewollt, was Schiff über die dritte Variation der Arietta sagt:

„This is not the forestory of a Boogie-Woogie, as many people suggest, I get very upset when I hear that: ‚Oh, this variation is so jazzy.‘ It is nothing jazzy about it, it’s only – of course, today we have different associations and we cannot forget all our experiences of jazz, but with due respect to that: This is the most spiritual creation of the most spiritual composer, so let’s not associate it with banalities.“

Ich könnte sofort kotzen. Weder ist Beethoven der spirituellste oder vergeistigtste Komponist von allen, noch ist op. 111 seine vergeistigtste Komposition. Und natürlich ist die dritte Variation der Arietta nicht im eigentlichen Sinne ein Boogie-Woogie, aber sie arbeitet mit schnellen punktierten Rhythmen und mit Off-Beat, also Betonung auf eigentlich unbetonten Taktteilen, und somit kann man sie durchaus als „jazzy“ bezeichnen, kann sie in Beziehung setzen zu anderer Musik, mit der sie gewisse Eigenschaften teilt. Und sie swingt hier doch wirklich, verdammt nochmal, diese angeblich so hochvergeistigte Abschiedsmusik. Ich hasse wirklich kaum etwas so sehr, wie den elitären Gestus, der uns hier aus Schiffs Worten ganz exemplarisch entgegentritt, und der die angeblich so überragende und quasi göttliche Überlegenheit der sogenannten klassischen Musik nur durch die völlig unbegründete Herabsetzung einer anderen, anders gearteten Kunst behaupten kann. Wenn aber Beethovens Größe nur um den Preis zu haben ist, dass man alles andere künstlich klein macht und geradewegs zur Banalität erklärt, völlig argumentlos, weil man das klassikverliebte Publikum im Auditorium ja sowieso auf seiner Seite weiß, dann scheiß ich auf den ganzen Beethoven.

Es kommt aber sogar noch schlimmer bei Schiff, gegen Ende hin versülzt er sich wirklich ins komplett Dümmliche:

„I think, if there are two words, they are gratitude and forgiving. That’s what I feel when I listen to this music or when I have the privilege to play it. Because of a fantastic great genius who had really suffered more than anyone, and still being able to write this music, and transmitting gratitude and a deep, profound, really, almost and not just almost, but to me holy, religious feeling. A gratitude to god for being alive and for being able to write music like this.“

Der ganze Heiligkeitsduktus geht mir natürlich gegen den Strich, aber vor allem die Behauptung, Beethoven habe mehr gelitten als irgendjemand sonst und dann trotzdem und aus dem tiefsten Leiden heraus diese zutiefst dankbare Musik geschrieben, quasi ein zweiter Hiob, der im Moment des allerschlimmsten Leids ein Danklied an Gott persönlich adressiert. Hallo? Okay, Beethoven war taub, das war für einen Musiker natürlich schon ein Schicksal und verhinderte eine weitere Karriere als Konzertpianist und Virtuose. Aber er war ein hochgeschätzter, tatsächlich weltberühmter Komponist, auch schon zu Lebzeiten, feierte Riesenerfolge, höchste Adlige protegierten ihn sein Leben lang, finanzierten seine Kunst, hielten ihre schützende Hand über ihn, wenn er mit seiner berüchtigten Patzigkeit sich mal wieder irgendwo unmöglich gemacht hatte. Er war Ehrenbürger Wiens, Köchinnen kochten ihm sein Essen, Sekretäre erledigten ihm Amtsgänge und Schriftverkehr, damit er sich ganz dem Komponieren widmen konnte. Ich sehe absolut nicht, wo dieser privilegierte Mensch „mehr als jeder andere gelitten“ haben sollte. Da haben andere wohl wirklich mehr gelitten und die vergisst man immer, weil die nämlich weder die Zeit noch die Mittel hatten, heroische Symphonien oder feinsinnige Sonaten zu schreiben. Diese schmalzig-romantische Gleichung: „Wer am meisten leidet, der schreibt die schönste Musik“, die geht einfach nicht auf.

Den Adorno, der Schiffs erstem Diktum vom Jazz als mit Beethoven nicht zu vergleichender Banalität wohl zugestimmt hätte, weiß ich wenigstens in dem Punkt auf meiner Seite, denn der hat sich auch aufs Schärfste gegen biographische Deutungen des späten Beethoven ausgesprochen. Beethovens Spätwerk mag schwer verständlich sein, aber wenn wir es nur als Ausdruck von persönlichem Leid, Taubheit, Einsamkeit der Person Ludwig van Beethoven erklären können, dann verfehlen wir doch wirklich die Musik. Dann hätte wirklich jedes Konversationsheft Beethovens mehr zu bedeuten als das cis-Moll-Quartett, wie Adorno es ausdrückte.

Im Grunde schließt sich hier für mich ein Kreis, denn ich habe dieses Sonatenprojekt unter anderem auch deshalb begonnen, weil ich vorher dem Maxim Biller dafür applaudiert hatte, dass er es wagte, in einer Literatursendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Thomas Mann einen schlechten Schriftsteller zu nennen, und kurz vorher hatte ich schon über Botho Strauß abgekotzt, und dann hatte ich das Gefühl, jetzt könnte ich auch mal wieder eine offiziell und allgemein als Hochkultur eingestufte Kunst einfach mal gut finden, denn so einfach ist es ja auch nicht, dass alle Hochkultur immer nur scheiße wäre. Und dann warf mir der Denkmuff die Beethovensonaten vor die Füße und ich hatte mein Thema. Dass ganz am Ende nicht nur der blöde Hochkulturelitedünkel wieder auf mich zurückfallen würde, sondern auch noch ausgerechnet genau der Thomas Mann höchstpersönlich, das hätte ich zwar da auch schon antizipieren können, war mir zu dem Zeitpunkt aber wirklich nicht klar.

Denn natürlich ist op. 111 die Sonate, über die Thomas Mann geschrieben hat, im Kapitel VIII des Doktor Faustus. Da schreibt dann Hochkultur über Hochkultur und legt dabei einem stotternden Amerikaner die mehr oder weniger wörtlichen Adornosätze in den Mund, ein höchst seltsames Unterfangen, sehr verschachtelt, ich habs eben nochmal gelesen, ich weiß nicht, mich bringt es in meinem Verständnis der letzten Beethovensonate nicht wirklich weiter.

Und vielleicht sage ich hier – der Text ist ja jetzt eh schon wieder so lang – einfach gar nichts groß über die Sonate selbst, nur soviel: Beethoven zitiert sich erst selbst: Die Tonart c-Moll und die Maestoso-Einleitung mit punktiertem Thema weist zurück auf die frühe Pathétiquesonate in selber Tonart mit ihrer Grave-Introduktion. Und wenn dann das Thema einsetzt, dunkel stampfend und abgründig, und wirklich nur momentweise kurz aufgehellt vom etwas zartereren zweiten Thema, dann fühlt man sich automatisch an die Katastrophen der Appassionata erinnert.

Ich hörte den Satz heute mit meiner Tochter und forderte sie auf, mir direkt alles zu sagen, was ihr zu dieser Musik einfällt, wonach das klinge, was sie da hört. Sie fand das interessant, war ganz bei der Sache. Folgende Adjektive fielen ihr ein: Wütend (Maestoso). Noch wütender! (Thema 1); Ruhig (Thema 2), glücklich. Aufgebracht (Durchführung), aufgeregt, glücklich, wahnsinnig, irre. Angespannt, verstört (Reprise).

Und dann die Arietta, die so still und elegisch beginnt, ich war ganz gespannt, was sie für diese Musik für Worte finden würde. Aber zur Arietta fiel ihr nichts ein. Ich sah ihr an, wie sie im Inneren nach Worten suchte, aber es kam keins raus und ich bohrte nicht weiter nach, ließ sie aus der Küche schleichen und blieb allein mit dem Abwasch und der Arietta.

Als Beethoven dann zum Boogie-Woogie aufspielte, sprang plötzlich kurz mein Sohn herein und fragte: „Ist das Beethoven?“ Ich bejahte, woraufhin er lachend einige verrückte Tanzschritte aufs Parkett legte und sich ebenfalls wieder verzog.

Und dann verzog sich auch noch die Arietta in ihr sphärisches Verklingen und das war’s.

Blue Velvet

Mit dem letzten Text viel zu lange rumgetan, hin- und herformuliert, Superlative angehäuft, triefender Sprachkitsch, alles wieder gelöscht, die Sonate noch zehn Mal gehört, und schließlich irgendwas geschrieben, was mir jetzt auch wieder als Murks erscheint.

Der Irrtum, weil mir die Musik von op. 109 so ans Herz geht, müsste ich auch unbedingt was total Tiefsinniges darüber schreiben: Im Resultat komplett missglückt. Überhaupt: die letzten drei Sonaten nicht als Heiligtum behandeln. Ist auch nur Musik. Sonaten ändern nichts.

Hans von Bülow soll die letzten fünf Sonaten mal in einem Konzert gespielt haben und am Ende waren nur noch vier oder fünf Leute im Auditorium. In dem Konzert wäre ich gerne gewesen.

Das 19. Jahrhundert hat den späten Beethoven einfach nur abscheulich und unverständlich gefunden und auch Schubert wurde ja im Grunde erst im 20. Jahrhundert entdeckt. Das, was man so Romantik und auch Spätromantik nennt, hat bei Beethoven an die athmosphärischen Modulationen der Mondscheinsonate, die symphonischen Ausbrüche der Eroica und der Fünften angeknüpft, an den sogenannten mittleren Beethoven also, den späten hat im Grunde keiner verstanden. Oder was heißt schon verstehen: Es hat ihnen halt einfach nicht gefallen, sie wussten nichts damit anzufangen.

Eine Rezeptionsgeschichte Beethovens wäre zu schreiben, wie auch die Tempi immer langsamer wurden. Je beliebter Beethoven im Lauf der Zeit wurde, desto langsamer hat man ihn gespielt und Barenboim ist bestimmt ein fantastischer Musiker, aber seine notorische Langsamkeit bei Beethovens Sonaten macht mich fertig. Selbes für Karajan bei den Symphonien, Furtwängler auch: alles zu gedehnt, zur Beethovenweihefeier aufgeblasen, alles durch die Wagnerbrille gesehen, als wäre der ganze Beethoven nur ein riesenhaft aufgedunsenes Vorspiel zum Parsifal. Falsch.

Und dieses lange 19. Jahrhundert dauert so lang, dass sogar Adorno noch darüber nachsinnt, warum Beethoven in der Sonate op. 110 so eine mozartisch primitive Begleitfigur fürs erste Thema einsetzen konnte, und Joachim Kaiser grübelt seitenweise ergebnislos darüber, warum die ersten zwei Sätze so harmlos, melodiös, gassenhauerisch und historisierend rüberkommen und im dritten kommt dann plötzlich die volle Bedeutungsschwere. Weil er einfach von diesem Paradigma nicht loskommt, dass immer der erste Satz der bedeutungsvolle sein muss und der Rest ist nur ein irgendwie nettes Beiwerk, nicht so wichtig. Als wäre nicht völlig klar, dass der späte Beethoven dieses ganze Sonatenkonzept völlig umdreht und den Akzent immerzu nach hinten verlegt.

Im Grunde erzählt Beethoven hier wirklich Geschichten, und die fangen doch immer harmlos an und erst am Ende wird es dramatisch. Whodunit, das verrät man doch nicht schon im ersten Takt, da wäre man ja blöd.

Der späte Beethoven ist eher wie ein David-Lynch-Film: Ein junger Mensch tänzelt unbeschwert über eine mit Blumen reichbestickte Blumenwiese und findet dann: Ein abgeschnittenes Ohr. Bäm. Und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Durchführung: Der Horror. Am Ende Tod, Verstörung, klagender Gesang, und Wiederbelebung durch die reine Disziplin der Fuge. Wiederherstellung der Harmonie, von der man jetzt, nach dem Durchlebten, weiß: sie ist nur Schein.

Der späte Beethoven ist uns fremd bis heute, weil seine eigentümliche Synthese aus Mozart, Haydn, mittlerem Beethoven und Bach, die er da vornimmt, von niemandem fortgeführt wurde, den Faden hat einfach keiner aufgegriffen. Und wenn er, der zu diesem Zeitpunkt schon als veralteter und aus der Mode gekommener schrulliger Alter galt, eine Begleitfigur des seit dreißig Jahren toten Mozart in seine vorletzte Sonate einbaut, dann sagt er damit vielleicht einfach nur: Those were the days. Aber die Zeitgenossen sagten: Jetzt spinnt er völlig.

Und das ist dein Text zur Sonate op. 110? Du hast noch nicht mal die Tonart genannt, nichts zum Josephine-Thema, nichts zu „Mei Katz hat Katzerln g’habt“, kein Wort zum Bach-Zitat „Es ist vollbracht“?

Die Tonart ist As-Dur.

Die berühmt-berüchtigte Bebung?

Geht mir am Arsch vorbei.

Magst du die Sonate überhaupt, du klingst heute so verärgert?

Ich liebe sie heiß und innig.

Keine weiteren Fragen.

 

 

Am rauschenden Bach

Ok, jetzt ist es endgültig soweit: Sobald der erste Klavierton erklingt, nimmt alles rings um mich Reißaus und ich stehe schlagartig allein im Zimmer. Also vermutlich keine lustigen Kinderkommentare zu Beethoven mehr hier, auf den letzten Metern lassen sie mich alle alleine stehen, aber gut, ich versteh’s ja irgendwie. Was hat mein Vater mich mit dem Rosenkavalier gepeinigt auf langen Autofahrten über kurvige Alpenpässe, wo einem ohnehin schon ständig schlecht wurde. Für mich war das schrecklichster Katzenjammer als Kind, komplett unverständlich, wie ihm das schräge Gekreisch gefallen konnte. Aber ihm war es die schönste, die lebenslang geliebteste Oper. Als ich nach seinem Tod die CD-Lade öffnete, wunderte es mich absolut nicht, den dritten Akt Rosenkavalier darin zu finden als seine letzte Musik. Und ich liebe den Rosenkavalier ja heute auch, der mir als Kind Tortur war, aufgezwungen im ununterbrochen vollgequalmten Auto, kann man sich heute ja alles gar nicht mehr vorstellen.

Also sollen sie ruhig weglaufen, aber sie wissen natürlich gar nicht, was sie verpassen, denn nach dem mathematisch durchkalkulierten Akustikchaos der Hammerklavierfuge kommt unerwarterweise mit der E-Dur-Sonate op. 109 die für mich schönste und vollkommenste aller Beethovensonaten, der wirkliche Höhepunkt seiner ganzen Sonatenkunst. Sie beginnt so licht, das erste Thema tänzelt direkt so heiter unbeschwert und unaufdringlich aus dem Nichts heraus, als sei es immer schon da gewesen, stoppt aber auch nach acht Takten wieder sofort, Doppelstrich, Wechsel von 2/4- auf 3/4-Takt, Wechsel von Vivace auf Adagio espressivo: Zweites Thema, das noch gestaltloser, noch unfassbarer improvisatorisch nach sich selbst zu suchen scheint. Typisch für den späten Beethoven, wie diese zwei eigentlich so gegensätzlichen und unvereinbaren Themen gegeneinandergestellt und durch keine länglichen Überleitungen mehr kunstvoll verbunden werden. Es ist wohl noch Sonatensatz, aber man hört das eigentlich kaum noch, es geht auch alles so schnell, nach gut drei Minuten tänzelt sich das Eingangsthema in den obersten Diskant, und schließt dann so unerwartet, wie es gekommen war, in einem tiefen Bassakkord, der ohne Pause, mit gehaltenem Pedal, in den zweiten Satz, Prestissimo, übergeht.

Und dieses ebenfalls in Sonatenform gehaltene Prestissimo rast dann so schnell vorbei, dass ich unmöglich noch das erste Thema vom zweiten, die Exposition von der Durchführung, die Durchführung von der Reprise schön säuberlich trennen könnte, es geht alles viel zu schnell: zwei Minuten, zack, bumm, aus. Ich finde das wahnsinnig interessant, wie sich die klassische Sonatenform unter Beethovens Händen gleichsam auflöst, indem er sich genau nicht über sie hinwegsetzt, sondern sie im Gegenteil in den ersten zwei Sätzen geradezu aufs Extremste komprimiert.

Deutlich wird dadurch nämlich auch: Dieses Sonatensatzschema ist hier definitiv keine Sonatenhauptsatzform mehr. Die beiden sehr kurzen Eingangssätze mögen der Form folgen, aber der Hauptsatz und Schwerpunkt der Sonate ist der dritte, Thema mit Variationen, und der ist wirklich einfach ein Mirakel, vielleicht die schönste Musik überhaupt von Beethoven, gleichzeitig aber komplex, vielschichtig, unergründlich tief.

Das simple Thema ist unbeschreiblich, es ist kein Choral, kein Lied ohne Worte, es wirkt trotz an Bach erinnernder Verzierungen und Arpeggien nicht wirklich barock, aber auch nicht klassisch, es klingt nicht nach Beethoven, aber auch nicht nach Mozart oder Haydn – es ist einfach nur es selbst, und als solches von bezwingender Schönheit. So schön, dass Beethoven selbst nicht anders kann, als es in der ersten Variation erstmal noch weiter auszusingen und damit, mit diesen wenigen Takten, im Grunde schon den halben Chopin vorwegnimmt. Dann aber macht er wieder etwas sehr beethoventypisches: Er schlägt die Gegenrichtung ein: Leggiermente nimmt er das Thema jetzt völlig auseinander, zerlegt es in eine scheinbar zufällig hingetupfte Sechzehntelbewegung, die dann aber teneramente bebend das Thema wieder hörbar macht, und wie das ganze dann in Moll abgedunkelt sich nochmal wiederholt – das ist einer dieser Momente, wo Beethoven ganz deutlich und dringlich zu uns spricht, und wir verstehen es nicht, und verstehen es doch, irgendwie, können es aber nicht sagen. Aber wer einmal gehört hat, wie Igor Levit die zwanzigste Variation von Bachs Goldberg-Variationen mit genau so einem pointillistisch huschenden Tupfen beginnen lässt, der kann nicht mehr daran zweifeln, dass Beethoven Bachs Variationswerk gekannt haben muss und ihm hier und überhaupt in dem gesamten Satz seine Hommage erweist. Leider finde ich auf YouTube niemanden, der die Variation 20 so tupfend nimmt wie Levit, ihr müsst mir also entweder glauben, oder euch die CD besorgen, was ich ohnehin jedem raten würde, der irgendwo noch 20 Euro rumliegen hat und nicht weiß, was er damit tun soll. Ich hab die Goldberg-Variationen so jedenfalls noch nie vorher gehört, atemberaubend gut, vollkommen durchdacht, begeisterte mich sofort. „This dude has magic in his fingertips“, wie ein YouTube-Kommentator es so treffend ausdrückt.

Aber zurück zu Beethoven: Ab der dritten Variation wird es kontrapunktisch, auch wenn man es, insbesondere in der vierten, gar nicht so deutlich hört, die klingt so melodiös, ist aber strenger Kontrapunkt. Variation 5 dann endlich als markante Fuge, die allerdings überraschend im piano endet, und beim Beginn der sechsten meint man erst, es sei schon die Wiederkehr des Themas, weil wieder die ruhige Bewegung der Viertelnoten da ist, aber das täuscht, schon nach zwei Takten werden aus den Vierteln Achtel, weitere zwei Takte später wechselt das Ganze vom 3/4- zum 9/8-Takt, was weitere Beschleunigung bewirkt, dann werden aus den Achteln Sechzehntel, aus den Sechzehnteln Zweiunddreißigstel, und die schlagen schließlich um in den unglaublich längsten Dauertriller, der mir bekannt ist. Es wirkt fast, als wollte Beethoven hier erklären, was diese rätselhaften Spätstiltriller, die schon in der Fuge der Hammerklaviersonate so verstörend gewirkt haben, eigentlich bedeuten sollen: Nicht primär harmonische Verwischung nämlich, wie mir scheint, sondern einfach äußerste Geschwindigkeit, allerschnellste Bewegung, so schnell, dass die Musik sich dem reinen Rauschen annähert, und ich glaube Joachim Kaiser gerne, der hier hervorhebt, wie irrwitzig schwer es ist, parallel zu diesem Trillerrauschen noch die Zweiunddreißigsteltelläufe im Bass und die Themenfigur im Sopran klar zu akzentuieren, bis sich das Rauschen dann endlich ins pianissimo hinuntertrillert, und ganz leise nochmal das Thema erklingt. So unprätentiös und schlicht, wie ganz zu Anfang.

 

Con alcune licenze

Stop! Hammer time!
(MC Hammer)

Es gibt einen Brief Beethovens an den Verlag Steiner & Comp., in dem er mitteilt, ihm sei gerade rein zufällig ein neuer Titel für die A-Dur-Sonate op. 101 eingefallen: „Sonate für das Pianoforte oder – – Hammerclavier“. Wenn die Titelseite aber schon gedruckt sei, dann wäre es auch nicht weiter schlimm und man könne in dem Fall den Namen einfach für die nächste Sonate aufbewahren. Und so wird es dann wohl gelaufen sein, jedenfalls erschien tatsächlich erst die B-Dur-Sonate op. 106 als „Große Sonate für das Hammer-Klavier“, und der Name scheint ja auch für keine andere Sonate so passend zu sein, wie die gleich zu Anfang so loshämmert:

Bildschirmfoto 2016-02-05 um 16.44.40Andererseits hat der Titel auch schon viel Verwirrung gestiftet und falsche Erwartungen geweckt. Adorno berichtet in seinen Beethoven-Fragmenten:

Zum Kinderbild Beethovens: daß ich mir unter der Hammerklaviersonate ein besonders leichtes Stück vorstellte, im Gedanken an die Hämmerchen-Spielzeug-Klaviere. Ich dachte für ein solches wäre sie geschrieben. Die Enttäuschung als ich sie nicht spielen konnte. (Adorno, Beethoven, S. 22)

Witzigerweise ging es mir selber ganz ähnlich, wobei ich nicht an ein Spielzeugklavier dachte, sondern dem Irrglauben anhing, ein Hammerklavier sei zu Beethovens Zeit schon ein veraltetes, quasi historisches Instrument gewesen, und daraus den Schluss zog, es handle sich um ein Stück für den Hausgebrauch von Dilettanten, die kein „richtiges“ Klavier zur Verfügung hatten. Ganz wie der kindliche Adorno dachte ich also lange Zeit, es müsse sich um ein besonders leichtes, geradezu belanglos simples Stück handeln.

Wie allgemein bekannt, ist nun das Gegenteil der Fall. Die Sonate ist so schwer, dass überhaupt niemand sie spielen konnte als sie erschien. Und als ob sie nicht eh schon schwer genug wäre, versah Beethoven sie auch noch mit so irrsinnig rasenden Tempovorschriften, dass man sich immer wieder gefragt hat, ob er nicht doch vielleicht verrückt oder wenigstens sein Metronom eventuell kaputt gewesen sein könnte. Als ich mir die Sonate zum ersten Mal auflegte – zwei bis zum äußersten Rand vollgepresste Plattenseiten – stand ich wie der Ochs vorm Berg, war völlig perplex, ratlos. Das war nicht nur nicht die historisierende Easy-Listening-Sonate, die ich erwartet hatte, sondern offenkundig reine Irrenhausmusik.

Und jetzt ist es einmal an der Zeit, Joachim Kaiser zu würdigen, an dem ich jetzt schon ein paarmal so ein bisschen rumgemäkelt habe, während ich mir ansonsten aus seinem Sonatenbuch die Ideen und blumigen Adjektive klaue und so tue, als wäre mir das alles selber eingefallen: Kaiser hatte, ich glaube es war in den frühen Neunzigern, die Sendung „Kaisers Corner“ auf Bayern 4. Eine Stunde lang erklärte er da in seinem unvergleichlichen Singsang die großen Werke der klassischen Musik. Ich liebte diese Sendung, saß dann immer vor unserem winzigen Radio in der Küche und lauschte gebannt den Ausführungen Kaisers, wie er die Stücke auseinandernahm, mit Vorläufern und Nachfolgern in Beziehung setzte, ihre Besonderheiten hervorhob und herausragende Interpretationen pries. Und eines Tages war dann auch die von mir so verabscheute Hammerklaviersonate dran. Ich glaube, er verwendete sogar mehrere Sendungen auf dieses Stück, bin mir aber nicht mehr sicher. Aber ich weiß noch, wie er eine bestimmte Stelle des Adagios mit einer Parallelstelle aus dem langsamen Satz von Schuberts B-Dur-Sonate verglich, und mit selber immer leiser werdender Stimme darüber sprach, wie die Musik sich hier dem völligen Verstummen annähert, wie sie für Sekunden, die sich zu einer kleinen Ewigkeit dehnen, in die absolute Stille eingeht. Da blieb mir vor meinem Küchenradio selber der Atem weg.

Und bestimmt redete Kaiser damals auch ganz viel über steigende und fallende Terzen, über verwandte und weit entfernte Tonarten, über Metronomzahlen und Tempi und all diese Dinge, die für die Hammerklaviersonate sicher von großer Bedeutung sind und von denen ich bis heute auch nur maximal die Hälfte ein bisschen ansatzweise verstehen kann, die mir damals also erst recht böhmische Dörfer waren. Aber trotzdem schloss er mir die Sonate damals auf mit der Erkenntnis, dass erstens ihr zentraler Satz das unendlich lange, wehmütig klagende Adagio ist, und dass zweitens jede Musik aus der Stille kommt und in die Stille wieder eingeht, dass Stille ein zutiefst musikalisches Element ist. Oder so ähnlich, bestimmt drückt Kaiser das viel besser, wahrer und philosophischer aus. Ich gäb was drum, all diese Kaisers-Corner-Sendungen nochmal hören zu dürfen. Wenn doch nur der BR die endlich mal aus den Archiven holte und als Podcast wieder zugänglich machte, aber wahrscheinlich geht das nicht wegen irgendeiner Urheberrechtsidiotie. Ein Bratscher, der in einem zehnsekündigen Musikbeispiel irgendwo im Hintergrund mitsägt, könnte womöglich Millionen für die Verletzung seines Rechts am eigenen Ton einklagen, naja, dann muss das halt leider alles im Archiv verrotten, schade, schade.

Aber sei’s drum. Dass das Adagio der zentrale Satz der Sonate ist, hab ich mir ja auch so merken können, und wenn man die Sonate als eine fünfsätzige betrachtet, indem man das die Schlussfuge einleitende Largo als eigenen Satz nimmt, dann wird das auch sofort augenfällig. In Pollinis Aufnahme, die die erste war, die ich hörte, und die mir immer noch mustergültig erscheint, sieht das dann so aus:

  1. Allegro  10:45
  2. Scherzo  2:42
  3. Adagio  17:12
  4. Largo  2:42
  5. Fuga a tre voci, con alcune licenze  9:38

Nahezu perfekte Symmetrie. Und es lohnt sich, dieses eigentümliche Largo nicht als bloße Introduktion zur Fuge abzutun, sondern einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Als wäre es nicht schon seltsam genug, auf das eben gehörte Mega-Adagio direkt ein noch langsameres Largo draufzupacken, beginnt Beethoven es mit einer völlig hohlen Oktavreihe von lauter Fs, die nicht nur piano zu spielen sind, sondern auch noch dolce, als wäre das die schönste und süßeste Melodei:

Bildschirmfoto 2016-02-05 um 16.45.02Und dann hebt er aus dieser Oktav-Ursuppe heraus immer wieder an zu neuen Fugenthemen, die er aber immer wieder verwirft und in neuerliches Largo-Oktavgegrübel verfällt. Man denkt automatisch an den vierten Satz der Neunten, wo er die Themen der vorangegangenen Sätze der Reihe nach nochmal Revue passieren lässt und dann schließlich sagt: Nicht diese Töne. Und mit dem Freudenthema nochmal ganz neu ansetzt. Aber so einfach ist es hier nicht. Die hier vorgestellten und gleich wieder verworfenen Themen kennen wir noch gar nicht, es ist wie ein Blick ins Skizzenbuch, das eigentlich verworfene Material, das dann sozusagen doch noch Teil der Sonate werden darf. Als ob Beethoven dem Pianisten, der jetzt ängstlich zitternd die Monsterfuge kommen sieht, sagen wollte: Du hast Probleme, meine Fuge zu spielen? Ich hatte auch Probleme, sie zu schreiben, also fass dir ein Herz!

Und so klingt diese Fuge dann auch bei den Besten der Besten, die das bewältigen können: Beherzt, entschlossen, risoluto, wie Beethoven ja selber vorschreibt. Da klingt fast nichts mehr von Bach durch, hier hat Beethoven sich die Form der Fuge mit seiner ganzen Subjektivität zu eigen gemacht. Allein diese manisch wiederkehrenden Triller, die absolut nichts mehr mit dem zu tun haben, wie Mozart einen Triller als Verzierung oder retardierendes Moment vor der Auflösung zur Tonika einsetzt. Beethovens schier endlos vor sich hin schrillenden und grollenden Triller scheinen gar nirgendwohin zu streben, zu keiner Tonika, zu keiner Auflösung, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll: Es ist wirklich und immer noch eine Irrenhausmusik, aber grandios, fantastisch, phänomenal.

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Der Anfang vom Ende

Der letzte Beethoven hat Rätselgestalt
bei gleichzeitiger höchster Evidenz.

(Theodor W. Adorno)

Die letzten Tage über immer wieder die A-Dur-Sonate op. 101 gehört, die ich vorher nur flüchtig und eigentlich überhaupt nicht richtig kannte, mir jetzt aber sofort zur allerschönsten Musik geworden ist, die eigentlich die ganze Zeit auf Repeat laufen könnte, ohne jemals langweilig zu werden. Die Schwelle zum rätselhaften Spätwerk, über das soviel geschrieben worden ist. Die einen halten es für unhörbaren, missglückten Mist, fehlerhaft aneinandergestückelte Fragmente, sogar Czerny hat sich dahingehend geäußert, dass der Grund für die Verfehltheit des Spätwerks in Beethovens Taubheit zu suchen wäre, weil sozusagen das Ohr als musikalisches Kontrollorgan leider endgültig ausgefallen war. Und für die anderen ist es der heiligste Tabernakel der Musik überhaupt, Adorno zum Beispiel, der die Floskel vom „letzten Beethoven“ fast manisch überstrapaziert, und merklich in Verzückung gerät, sobald er aufs Spätwerk zu sprechen kommt.

Und Adorno hat es ja auch auf den Punkt gebracht: Rästelgestalt bei gleichzeitig höchster Evidenz, besser kann man es nicht sagen. Für mich wirklich eine interessante Erfahrung, jetzt, nachdem ich alle Klaviersonaten so intensiv gehört und darüber geschrieben habe, das mysteriöse Spätwerk zu hören, und plötzlich ist alles ganz evident, was ich früher auch eher sperrig und unverständlich gefunden hatte. Und gleichzeitig aber auch evident anders als alles vorhergegangene, allein die jetzt konsequent betriebene Auseinandersetzung mit Bach und Händel, in der A-Dur-Sonate deutlich hörbar: Nicht erst in der Fuge des vierten Satzes, sondern auch schon im Trio des zweiten klingt er plötzlich wie Bach, aber nicht im Sinne einer Imitation oder Persiflage: Dieser Bach ist durch und durch Beethoven, ich kann es nicht besser ausdrücken, und es klingt so innig, vielschichtig, elektrisierend, wahnsinnig gut. (Bei Sokolov, siehe unten, ab 8:12)

Man muss sich dabei immer wieder vergegenwärtigen, dass zu der Zeit, als Beethoven diese Sonate schrieb, die barocken Meister fast vollständig in Vergessenheit geraten waren. Als Mendelssohn 1829, also zwei Jahre nach Beethovens Tod, die Matthäus-Passion erstmals nach fast hundert Jahren wieder aufführte, konnte das auch deswegen so einschlagen wie eine Bombe, weil die Leute keine Ahnung hatten, dass so eine Musik in ihren Notenarchiven geschlummert hatte. Und Beethoven seinerseits war mit Bach mehr oder weniger aufgewachsen, hatte mit dem Wohltemperierten Klavier das Klavierspielen gelernt, hatte als angehender Komponist intensiven Unterricht im Kontrapunkt genossen, und jetzt am Ende seines Schaffens greift er darauf zurück. Immer wieder bittet er seine Verleger, ihm die Werke der alten Meister zuzuschicken. Was seine Zeitgenossen schreiben, interessiert ihn kaum noch, stattdessen studiert er Bach und den von ihm noch höher geschätzten Händel, und versucht in seinen letzten Werken die Synthese aus klassischem Sonatenstil und barocker Polyphonie herzustellen.

So ist das Spätwerk Beethovens durch und durch von Gegensätzen geprägt und durchzogen: Komplexe Polyphonie einerseits, kahles Unisono andererseits. Einfache, ganz sangliche und innige Melodien einerseits, wildeste Fugen an der Grenze der Spielbarkeit andererseits. Undsoweiter.

Am Ende des rezitativischen Adagio, das einen – langsam und sehnsuchtsvoll – nochmal in ganz andere Sphären gehoben hat, kehrt plötzlich das eigentlich so beiläufig und gar nicht effekthascherisch klingende Thema des ersten Satzes noch einmal wieder, und jedes Mal überrascht mich die Stelle von Neuem. (Sokolov: Adagio ab 11:33, Überleitung zum Allegro ab 14:40) Man horcht automatisch auf, es sind bloß ein paar Takte der Überleitung zum Schlussallegro, aber die Melodie klingt jetzt ganz anders als am Anfang, als sie so einfach aus dem Nichts kam, jetzt ist sie durch das Vorangegangene mit dem zärtlichsten Gefühl aufgeladen. Keine Ahnung, wie Beethoven das macht, aber es ist so. Und wie er im letzten Satz eine Synthese aus strenger Fuge und ausgelassen schwingendem Tanz vollbringt, das wird ihm auch nie mehr irgendjemand nachmachen, nicht einmal Schubert, der leider starb, bevor er sich der Form der Fuge zuwenden konnte.

Die späten Beethovensonaten, es sind ja eh nur fünf, wir sind hier schon fast am Ende unserer Reise, stehen wirklich singulär da in der Geschichte der Klaviermusik, da ist jede ein eigener Kosmos für sich, und vor der nächsten ist mir schon bang: Was soll man denn zur Hammerklaviersonate noch Neues sagen?

Aber jetzt hört euch erstmal die A-Dur-Sonate an. Und nicht nur zu den oben angegebenen Stellen vorspulen, die Zeitmarkierungen sind nur als Orientierungshilfe gedacht. Wenn uns die Wiederkehr des ersten Themas hier etwas sagen will, dann doch auf jeden Fall, dass diese Sonate ein Ganzes bildet, ein unzertrennliches Gewebe. Endlich feuert hier mal einer das Gewehr im vierten Akt ab, das er im ersten an die Wand gehängt hat.

Sehr beiläufig zu lesen, nicht zu geschwind, aber durchaus mit Entschlossenheit

Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt,
dem strömt stets anderes Wasser zu.
(Heraklit)

Die Abstände zwischen den Klaviersonaten werden jetzt immer länger, fünf Jahre liegen zwischen der Les-Adieux-Sonate von 1809 und der zauberhaften e-Moll-Sonate op. 90, geschrieben 1814. Während Beethoven sowohl den Fidelio komplett umarbeitet und neu einstudiert, als auch mit gigantischen Symphoniekonzerten seinen Teil zum Unterhaltungsprogramm des Wiener Kongresses beiträgt, purzelt wie nebenbei auch noch diese zweisätzige Sonate heraus.

Das erste, was einem ins Auge springt, ist, dass Beethoven hier zum ersten Mal konsequent auf die klassischen italienischen Tempobezeichnungen (Allegro, Adagio, Andante usw.) verzichtet und sie durch viel längere deutsche Beschreibungen ersetzt: Erster Satz: Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck. Zweiter Satz: Nicht zu geschwind und sehr singbar vorgetragen. Unter anderem Wagner hat das als Ausdruck von Beethovens deutsch-nationalem Sendungsbewusstsein interpretiert, aber das ist natürlich Unsinn. Hatte ich schon mal erwähnt, für wie falsch ich fast alles halte, was Wagner über Beethoven geschrieben hat? Naja, egal, ich denke, es hat etwas mit Beethovens fortschreitender Taubheit zu tun. 1814 hörte er vermutlich so gut wie nichts mehr, was unter anderem bedeutete, dass er seine Werke nicht mehr selbst aufführen konnte: Ein kleiner Liederabend am 25. Januar 1815 war sein letzter öffentlicher Auftritt am Klavier, danach ging das offensichtlich einfach nicht mehr und er musste die Interpretation seiner Stücke endgültig anderen überlassen, weshalb er so präzise wie möglich in den Notentext hineinschreiben musste, wie er sie gespielt wissen wollte. Zehn oder fünfzehn Jahre davor hatte er sich halt einfach selber ans Klavier gesetzt und demonstriert, wie genau ein bestimmtes Allegro aufzufassen sei. Zu seiner Glanzzeit als Konzertpianist erschien er manchmal mit noch unfertigen Werken auf der Bühne, improvisierte die fehlenden Passagen einfach dazu, und musste dem Umblätterer durch ein Kopfnicken signalisieren, wann er die halbleeren Notenblätter zu wenden hatte. Das geht jetzt nicht mehr, jetzt muss er jedes noch so winzige Detail, das ihm wichtig ist, im Notentext verschriftlichen, damit der Ausführende es auch ja richtig macht, und dazu gehören eben auch diese ausgefeilten und teilweise fast paradox anmutenden Vortragsbezeichnungen.

Für das Auseinanderdriften der Funktionen von Komponist und Interpret, das sich im 19. Jahrhundert ja immer weiter fortsetzte, hat der eigentlich ja völlig kontingente Umstand von Beethovens Taubheit eine nicht geringe Rolle gespielt, genau wie für den Wegfall der letzten improvisatorischen Momente aus der Musik. Im Barock und der frühen Klassik wurden ornamentale Verzierungen nur gelegentlich notiert, im Grunde ließ man da dem Interpreten freien Raum für seine Phantasie, auch Mozart zum Beispiel komponierte keine Kadenzen für seine Klavierkonzerte, das war ein Raum fürs Improvisieren. Beethoven, der als junger Mensch ein genialer Improvisierer gewesen sein muss, schreibt jetzt als Tauber die Kadenzen auf, die er selber nicht mehr live am Klavier einfach hinphantasieren kann. Und sein Einfluss ist so groß, dass es ihm alle Späteren dann nachtun. Eine fast groteske Ironie des Schicksals: Der eigentlich genialste Improvisierer ist wegen seiner zufälligen Erkrankung des Gehörs verantwortlich für die endgültige Verschriftlichung jedes noch so kleinen musikalischen Details. Erst über hundert Jahre später wird im Jazz das Improvisieren wieder zu einem wesentlichen Faktor des Musizierens werden. Da hatten allerdings die Klassikfreunde, die über die Negermusik die Nase rümpften, schon lang vergessen, dass es um 1800 herum in Wien kaum etwas Aufregenderes gegeben hat, als ihren verehrten Beethoven eine Stunde lang am Klavier improvisieren zu sehen, bis dem Ding die Saiten absprangen, weil er so wild darauf einhämmerte.

Aber ich bin abgedriftet, zurück zur e-Moll-Sonate und zur Frage, ob es überhaupt eine e-Moll-Sonate ist, denn der zweite Satz steht ganz klar in E-Dur, und danach kommt nichts mehr. Wir haben also zwei Sätze und zwei Tonarten, aber alle Welt schreibt und redet wie selbstverständlich von der e-Moll-Sonate, als schrieben sie alle voneinander ab. Aus welchem Grund nimmt man denn immer die Tonart des Kopfsatzes für die ganze Sonate? Es scheint mir überhaupt das größte Missverständnis der Sonatenform, dass immer nur der erste Satz als das eigentlich Wichtige angesehen wird, als wäre alles Folgende nur ein fast uninteressantes Beiwerk, und nur im Kopfsatz sagte der Komponist das wirklich Tiefsinnige. Sehr auffällig auch bei Joachim Kaisers Sonatenbuch, dass er den ersten Sätzen unverhältnismäßig viel mehr Beachtung schenkt als den anderen.

Mozart hat übrigens, das fand ich auch interessant zu erfahren, nur ein einziges Stück in der Tonart e-Moll geschrieben: Die Violinsonate KV 304. Verrückt, oder? Er hat doch in seinem kurzen Leben die Stücke nur so rausgehauen wie von der Tarantel gestochen, aber nur genau ein einziges Mal in e-Moll. Ich hab mir die Sonate heute angehört, ein sehr schönes, todtrauriges Stück, aber wenigstens steht die Tonart nicht in Zweifel, beide Sätze sind eindeutig in e-Moll. Beethoven muss natürlich immer alles komplizierter machen.

Aber gut, okay, wenn alle Welt immer nur den ersten Satz für voll nimmt, dann schreibe ich halt mal extra und zum Fleiß nur über den zweiten, den E-Dur-Satz der sogenannten e-Moll-Sonate. Rubinstein hat über den Satz gelästert, weil das Thema so oft wiederholt wird, aber mir gefällt das gerade, die liedhafte Melodie und die Art, wie Beethoven sie wiederholend und wiederholend durch die verschiedensten Tonarten jagt, deutet schon auf Schubert voraus, der mir von allen Komponisten ja der Liebste ist, und ich hab mich im Rahmen dieser Beethovensonatenbloggerei schon manches Mal gefragt, warum ich eigentlich über Beethoven hier blogge, und nicht über Schubert, der mich doch noch viel direkter anspricht. Aber es hat bestimmt seinen guten Sinn und für Schubert war Beethoven ja auch der Größte, den er nie erreichen zu können glaubte. Ich hab mal im Fernsehen einen Dokumentarfilm über den Komponisten Ernst Krenek gesehen, wo der als uralter Greis sich erinnerte, mal mit Schönberg darüber gestritten zu haben, welcher der größte Komponist aller Zeiten gewesen sei. Schönberg votierte für Beethoven, Krenek für Schubert. Eine reizende Vorstellung, wie die seriellen Zwölftöner und atonalen Publikumsverstörer sich heimlich zuhause ihre Lieblingskomponisten auflegen.

Im Übrigen finde ich es bemerkenswert, dass die Sonate op. 90, von Rubinstein ob ihrer Wiederholungsseligkeit gescholten, als erste und einzige Beethovensonate kein einziges Wiederholungszeichen enthält. Zwar wiederholt sich alles unablässig, aber nie wörtlich, nie ganz identisch. In immer veränderter Form fließt dieser heraklitische Fluss vor sich hin, bevor er ganz beiläufig und unerwartet, denn es könnte doch eigentlich immer so weiter gehen, im pianissimo verklingt.

 

 

Zum Abschied leise Servus

(Adagio) Im Auto. Stille. Hinten sitzt J., sagt kein Wort. Eiskristalle auf dem Armaturenbrett. Musste zwei Eisschichten abkratzen, außen und innen, jeder Atemhauch schlägt sofort wieder an die Scheibe und friert direkt an. Minus acht. Gemütlich. Draußen die helle Sonne, verstörendes Licht. Viel zu helle Lichtkreise, die durchs Eis gleißen. Taste mich langsam vor, bis endlich die Heizung hochfährt und mein mühsam freigekratztes Sichtfenster sich Stück für Stück vergrößert. J. schweigt weiter, sauer, weil ich ihn heute zum Kinderladen bringe, das macht sonst Mama, aber die ist heute krank. Ich parke, schweigend überqueren wir die Straße, durch den Hausgang, kein Wort. Im Kinderladen dann plötzlich || (Allegro) Gewusel, auch J. schlagartig bester Laune, raus aus der Schneehose und den ganzen dicken Wintersachen, labert los, knutscht alle ab, kann sich aber auch von mir nicht einfach so lösen, plötzlich bin ich wieder sein bester Freund und geliebtester Mensch, bevor ich gehen kann muss erst das Abschiedsritual vollzogen werden, von dem ich gar nicht wusste, dass es existiert, geschweige denn, welcher Choreographie es genau folgt, alles scheint genau durchkomponiert, bis in die kleinste Bewegung hinein, also erst Rennen, dann Auffangen, Hochwirbeln, eine Drehung, dann wie zufällig auf der Bank zu sitzen kommen, einmal Hoppehoppereiter, woraus eine Kopfüberhängefigur sich ergeben muss, dann wieder hoch, Handkuss links, Handstreicheln links, dann (dolce) Handkuss rechts, Handstreicheln rechts, finaler Abschiedskuss, aber Achtung: Trugschluss: Jetzt Wiederholungszeichen und das Ganze noch einmal, bis ich schließlich raus darf und wir uns jetzt (Coda) an allen vier Fenstern noch einmal winken, zuletzt noch ein angedeuteter Laserschwertkampf durch die Fensterscheibe, ein letzter Wurfkuss und – jetzt aber wirklich – Zing! Zong! – bin ich weg und stehe alleine in der Kälte.

(Andante espressivo) Programmmusik, ich weiß nicht, ich bin da eher skeptisch. Meine allererste Orchestererfahrung, eine Kindersinfonie von Leopold Mozart, in der immerfort eine Kuckucksflöte schräg rein trötete, ich fand das als Kind schon läppisch. Oder der ewige Karneval der Tiere von Saint-Saëns, an dem wohl kaum ein Kind vorbei kommt, meine natürlich auch nicht, und die Musik ist ja auch schön, aber wenn der unvermeidliche Sprecher dann immer die armen Kinder nervt mit seinem besserwisserischen: Na, hörst du die Elefanten, wie sie trampeln? Das Gackern der Hühner? Den Hahnenschrei? Das Brüllen der Löwen, kannst du es hören? Dann geht bei mir einfach der Hermeneutikalarm los. Aber was will man machen, die Leute lieben es eben, wenn man ihnen sagt, was sie hören sollen. Vivaldi hat 241 Violinkonzerte geschrieben, aber nur die vier, wo er Frühling, Sommer, Herbst und Winter oben drüber geschrieben hat, haben es ins kollektive Gedächtnis der Menschheit geschafft. Bei Beethoven natürlich ähnlich: Die Les-Adieux-Sonate ist eine seiner beliebtesten, und hier ist er jetzt wirklich mal selber schuld: Anders als bei Mondschein oder Appassionata, die von anderen programmatisch betitelt wurden, hat er hier die drei Sätze selber Das Lebewohl, Abwesenheit und Das Wiedersehen genannt, da muss er sich nicht wundern, dass jetzt alle nur noch nach Hornstößen einer abfahrenden Postkutsche und dem Hufgetrappel der nervösen Pferde fahnden. Dabei ist das so eine schöne Sonate, man muss sich nur das blöde Programm wegdenken, was gar nicht so leicht ist. Wenn man das Hufgetrappel einmal gehört hat, kann man es fast nicht mehr nicht hören, das ist schon eine Art höherer Zen-Buddhismus, die falschen Vorstellungen wieder aus dem Kopf zu vertreiben und wieder das zu hören, was wirklich da ist: Keine Pferde, nur ein Klavier.

(Vivacissimamente) wollte ich meinen Sohn dann auch wieder vom Kinderladen abholen, aber als er mich erblickte, verkroch er sich direkt hinter der Tür des Spielzimmers. So geht das nicht, flüsterte ich dem hinter der Tür Versteckten zu, du musst mir jetzt vivacissimamente in die Arme fallen und der Freude des Wiedersehens darf gar kein Ende mehr sein, das brauch ich doch für meinen Blogartikel heute. Ich kriegte ihn dann immerhin zu einem behaglichen Andante, und später, als wir uns daheim mit aus Lego selbst gebauten Laserschwertern bekämpften und lachend zu Boden gingen, sogar Allegro vivace. Beim Zähneputzen drehten die Kinder dann endlich komplett albern und vivacissimamente zur Höchstform auf, und ich hatte meine liebe Mühe, ihnen klar zu machen, dass jetzt doch Largo con Schlafanzug angesagt ist.

Allemande

Was kaum jemand weiß: Eigentlich hat Beethoven nicht zweiunddreißig Klaviersonaten geschrieben, sondern nur einunddreißig, denn die Nummer 25 der kanonischen Sammlung ist von Beethoven selbst als Sonatine überschrieben worden. Es gibt aber dennoch keinen Grund, die G-Dur-Sonatine op. 79 irgendwie zu belächeln oder als bloßes Nebenwerk abzutun, im Gegenteil, ich mag die besonders gerne, mit ihren 10 Minuten ist sie auch nicht kleiner als ihre Vorgängerin „à Thérèse“ und leichter zu spielen als die beiden Leichten Sonaten op. 49 ist sie wohl auch nicht.

Sie beginnt gleich mit einem Paradox, nämlich der Vorschrift „Presto alla tedesca“. Wie soll man das denn verstehen? Deutet nicht deutsches Tempo immer auf etwas eher Langsames, Behäbiges, ein etwas plump vor sich hin Tänzelndes? Da muss jeder Pianist gleich zu Beginn eine Entscheidung treffen, was er aus dieser eigentümlichen Vorschrift macht, und ich kann mich dem geschätzten Joachim Kaiser hier nicht anschließen, der etwas gönnerhaft bemerkt, diese Sonatine sei ein problem- und geheimnisloses Werklein ohne Vieldeutigkeitsrest. Die Auffassungen, wie ein Presto alla tedesca zu spielen sei, gehen da nämlich erstaunlich weit auseinander. Mir gefällt hier Schiffs Interpretation am Besten, der es mit dem Presto nicht übertreibt und dadurch das tänzerische Moment des Satzes am Schönsten zum Schwingen bringt.

Der sehr schöne zweite Satz wird oft als Vorläufer und Urbild für Mendelssohns Lieder ohne Worte beschrieben, sogar Adorno schreibt einmal vom „Mendelssohn g-moll-Mittelsatz der G-Dur-Sonate“, die allgemeine Bekanntheit dieses Vergleichs offenbar einfach voraussetzend. Ich will da auch gar nicht widersprechen, zumal ich Mendelssohn ja sehr schätze, aber ich frage mich doch, ob man nicht irgendein anderes sangliches Andante oder Adagio von Beethoven mit gleichem Recht als einen solchen Vorläufer hätte bezeichnen können, die Vorschrift cantabile oder molto cantabile findet sich doch sehr häufig bei ihm. Naja, über Beethovens durchaus diskussionswürdige Vorläuferfunktion für die Romantik vielleicht ein andermal, heute will ich mal Beethovens Vorbild ernst nehmen und mich kurz fassen.

Der dritte Satz huscht nämlich auch ganz schnell vorbei, auch er sehr tänzerisch, und deutlicher als im ersten prallt hier eine etwas ungelenk stampfende Tedesco-Version des Themas auf eine zartere, galantere Variante, es ist wie ein ungleiches Tanzpaar, das heiter auf dem Parkett seine Runden dreht. Aber wie es mit den beiden ausgeht, bleibt ein Geheimnis, nach einem dreitaktiken Crescendo tropft der Satz mit zwei piano hingetupften Akkorden urplötzlich aus. „It just evaporates into nothingness“, wie András Schiff es ausdrückt, und schöner kann man das wirklich nicht sagen.